Vorschlag (1882)

Vorschlag (ital. Appogiatura, franz. Port de voix) nennt man Verzierungen der Melodie, welche durch kleinere Noten als Beiwerk charakterisiert und bei der Takteinteilung nicht in Rechnung gezogen werden. Es sind zwei Arten von Vorschlägen streng auseinander zu halten, nämlich der lange und der kurze Vorschlag.

  1. Der lange Vorschlag ist nichts andres als der Ausdruck eines harmonischen Verhältnisses durch die Notierung. Die Vorschlagsnoten sind harmonisch Vorhaltstöne, so dass für den langen Vorschlag der Name Vorhalt am Platz wäre. Man zog es früher vor, frei auftretende Vorhalte in der Weise zu bemänteln und zu verdecken, dass man die dissonante Note als Verzierungsnote klein schrieb. Heute kennt man solche Peinlichkeit nicht mehr, und darum ist der langsame Vorschlag gänzlich veraltet. Er sollte deshalb bei neuen Ausgaben älterer Werke (vor Beethoven) ausgemerzt und wenigstens der Dilettant nicht mehr mit der Erlernung der Regeln für seine Ausführung gequält werden. Es würden damit viele Fehler ein für allemal unmöglich gemacht sein. Da die Vorschlagsnoten nicht gerechnet werden, so wird die Note, vor welcher der Vorhalt geschieht (die groß geschriebene Hauptnote), mit dem vollen Wert notiert, welchen beide zusammen haben. Die Vorschlagsnote aber wird mit dem Wert aufgezeichnet, der ihr zukommt. Die Ausführung ist also ganz einfach, wenn man die kleine Note als das spielt, als was sie geschrieben ist, und der folgenden Note den bleibenden Rest gibt:langer Vorschlag (Riemann 1882)

    Nur der sechsteilige Takt (2 Triolen = 6/8, 6/4 etc.) macht manchmal eine Schwierigkeit, da statt der korrekten Schreibweise bei a) die ungenaue von b) angewendet wird. Die Auflösung beider ist die von c).

    langer Vorschlag 6/8-Takt (Riemann 1882)

    Dagegen ist die Phrase:

    langer Vorschlag (Riemann 1882)

    wohl besser nicht wie bei a), sondern wie bei b) aufzulösen, wenn auch die Möglichkeit der Annahme ungenauer Schreibweise auch hier nicht ausgeschlossen ist.

  2. Der kurze Vorschlag ist leicht vom langen dadurch zu unterscheiden, dass die Vorschlagsnote einen Querstrich durch die Fahne hat (er wird nie mit größerer als einer Achtelnote geschrieben):Notation kurzer Vorschlag (Riemann 1882)

    Der kurze Vorschlag bietet aber ein anderes Problem, nämlich ob er auf den Beginn des Notenwerts der Hauptnote gegeben werden muss oder aber vorher, d. h. vom Werte der vorausgegangenen Note abgezogen. Beide Arten der Ausführung hatten und haben ihre Verfechter, und zwar haben immer die besten Meister verlangt, dass der Vorschlag mit der vollen Taktzeit einzutreten hat, der kurze Vorschlag ebenso wie der lange; die andre Manier wird schon von Ph. E. Bach (1752) als dilettantisch gerügt. Also

    kurzer Vorschlag (Riemann 1882)

    Beide Arten würden übrigens, da der kurze Vorschlag immer sehr schnell ausgeführt wird, kaum zu unterscheiden sein, wenn nicht die Akzentuation in einem Fall ganz anders wäre als im andern. Die Vorschlagsnote hat den Akzent. Vergleiche aber Nachschlag.

    Wenn mehrere Noten vorschlagen, wie beim Schleifer (a) und Anschlag (b), so ist ebenfalls die erste Note die akzentuierte:

    Schleifer und Anschlag (Riemann 1882)

    Auch wenn vor einem Ton eines Akkords ein Vorschlag geschieht, ist die Ausführung analog:

    Vorschlag vor Akkord (Riemann 1882)

    Auszunehmen ist nur der Fall, wo ein Vorschlag in einer durch die Oktave verstärkten Melodie auftritt, z. B. (Schubert):

    Akkord-Vorschlag - Ausnahme (Schubert)

    Hier wäre die erste Ausführung falsch, da sie eine nicht beabsichtigte Zweistimmigkeit herstellen würde.

  3. Gleichsam eine Mittelstellung zwischen langen und kurzen Vorschlägen nehmen die von manchen zu den letzteren gerechneten Vorschläge ein, bei denen die Vorschlagsnote nur den vierten Teil der Hauptnote oder noch weniger beträgt, die aber nicht durchgestrichen notiert sind. Auch diese werden genau in dem Wert ausgeführt, den ihnen der Komponist zugewiesen hat:mittlerer Vorschlag (Riemann 1882)

    [Riemann Musik-Lexikon 1882, 983f]