Violine (1882)

Violine (ital. Violino, franz. Violon), das jetzt über die ganze Welt verbreitete Streichinstrument, das mit seinen ihm nachgebildeten Verwandten in tieferer Lage (Bratsche, Cello, Kontrabass) alle anderen Streichinstrumente völlig verdrängt hat, ist ein verhältnismäßig noch junges Instrument, andererseits freilich, wenn man die Epoche der höchsten Vollendung seines Baues in Betracht zieht, älter als irgend eins unserer Musikinstrumente.

Violine (Zamminer 1855)

Violine. Abb. aus [Zamminer 1855]

Der Violinbau erreichte zu Anfang des 18. Jahrhunderts die höchste Vollkommenheit; alle Versuche, die Meisterleistungen der Cremoneser Violinbauer zu überbieten, sind absolut erfolglos geblieben, während die übrigen Orchesterinstrumente sowie auch das Klavier und die Orgel seitdem sich immer mehr vervollkommnet haben. Über die Entwicklung der Violine aus der älteren Viola, von der sie ursprünglich eine kleinere Art sein sollte, vergleiche Viola; von einem Erfinder der Violine kann nicht die Rede sein, die Umwandlung ging etwa 1480 bis 1530 durchaus allmählich vor sich, die Erfahrung lehrte, eine kleine Abänderung nach der anderen festzuhalten. Allerdings aber wird es wohl eine Kette von Lehrern und Schülern, eine wirkliche Schule gewesen sein, welche eine so konstant fortschreitende Vervollkommnung ermöglichte. Dass ein solches Weitergeben von Erfahrungen der Violinbauer wirklich statthatte, dafür bürgt nicht nur die durch mehrere Generationen fortlaufende Tätigkeit der Amati, an welche sich mit Andreas Guarneri, Schüler Niccold Amatis, die durch drei Generationen gehende Familie Guarneri und Antonio Stradivari anschließen, sondern überhaupt die Beschränkung des Geigenbaus in der Zeit der Entwicklung auf einen verhältnismäßig kleinen Bezirk (Tirol und Oberitalien).

Die Violine ist, wie ihre Verwandten, mit vier Saiten bezogen; dies Zahl hatte sich im Lauf der Jahrhunderte nach allerlei Versuchen mit weniger und mehr Saiten als die bestgewählte herausgestellt, da sie bei mäßiger Wölbung des Stegs ein bequemes Spiel jeder einzelnen Saite gestattet. Die Saiten sind gestimmt in
Stimmung der Violine (Riemann 1882)

und numerieren, wie die der übrigen Streichinstrumente, von der Höhe nach der Tiefe, weil die höchste die dem Bogen nächst erreichbare ist. Die erste Saite heißt bei den Musikern die Quinte oder Chantarelle [sic] (Sangsaite, vergleiche Quinte); die vierte (G-)Saite ist übersponnen.

Die Violine ist ihrer Natur nach ein Instrument für einstimmiges Spiel; die Reduktion der Saitenzahl der Violen und Lyren bedeutete einen Verzicht auf das Akkordspiel, doch ist dasselbe innerhalb gewisser Grenzen noch immer möglich. Akkorde, aus Quinten, Quarten und Sexten zusammengesetzt, sind ziemlich leicht spielbar, vorausgesetzt, dass man nicht zu schnellen Wechsel solcher Akkorde verlangt; eine große Zahl von Akkorden wird durch Benutzung einer oder mehrerer leeren Saiten leicht. Es versteht sich von selbst, dass man unterhalb [d] von der Violine keine Doppelgriffe verlangen kann, da nur eine Saite tiefer gestimmt ist. Der Klang der 3. und 4. Saite der Violine hat etwas dem Timbre der Altstimme Verwandtes, besonders in höheren Lagen.

Außer dem gewöhnlichen vollen Ton sind der Violine noch besondere Klänge abzugewinnen:

  1. durch Berührung von Knotenpunkten harmonischer Obertöne, das sogenannte Flageolett;
  2. durch Anreißen mit dem Finger statt Streichen, das Pizzicato, im modernen Symphonieorchester der einzige Ersatz für die einst so zahlreich vertretenen Instrumente mit gekniffenen Saiten (Laute, Theorbe etc.).

Mit Recht nimmt die Violine unter allen Instrumenten eine Ausnahmestellung ein und wird heutigestags [um 1880] nur vom Klavier an allgemeiner Verbreitung und Beliebtheit übertroffen. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 972f]