Tonsystem (1865)
Tonsystem, die zusammenhängende Ordnung sämtlicher in der praktischen Musik gebräuchlichen Töne nach gewissen Regeln.
Bei den Griechen bedeutet System in musikalischer Hinsicht die Zusammensetzung wenigstens zweier Diastemen oder Intervalle (im Allgemeinen die Zusammenfügung vieler Teile zu einem geordneten Ganzen). Unter den alten Kulturvölkern wissen wir allein von den Griechen, dass sie ein geordnetes Tonsystem gekannt haben und wie es beschaffen gewesen ist, wenngleich nicht zu bezweifeln ist, dass schon vor ihnen die Ägypter und noch früher die Inder im Besitze eines solchen gewesen sind. Die Ägypter waren gute Mathematiker, ferner mochten an den langen Saiten ihrer großen Harfen einige Obertöne vernehmbar gewesen sein. Überdies sollen sie das Griffbrett an Saiteninstrumenten gekannt haben, so dass ihnen unter solchen Voraussetzungen die aller Tonordnung zu Grunde liegenden Verhältnisse der Oktave, Quinte und Quarte kaum lange verborgen geblieben sein können. Doch fehlt es über die erste Einrichtung eines Tonsystems zwar nicht an Konjekturen, aber an allen sicheren Nachrichten. Dass die Anzahl der gebräuchlichen oder wenigstens in ein System gebrachten Töne anfangs nur sehr klein gewesen ist, lässt sich annehmen. Die Leier des Merkur soll nur vier Saiten gehabt haben, an denen, da sie stets ihrer ganzen Länge nach erklangen, nur ebenso viele Töne möglich waren. Über das Intervallverhältnis aber, welches diese Töne zueinander einnehmen, widersprechen sich die Nachrichten. Nach der Angabe des Boethius soll, gegen die tiefste Saite als Grundton, die vierte eine Oktave, die dritte eine Quinte und die zweite eine Quarte ausgemacht haben, das System also als eine Aneinanderreihung zweier unverbundenen Quarten oder Tetrachorde E-AH-e erschienen sein. Dem entgegen versichert aber Nikomach ausdrücklich, dass bis auf Pythagoras noch keine Quinte im griechischen Tonsystem vorhanden gewesen sei, daher denn viele glauben, die Stimmung der vier Saiten jener alten Leier des Merkur habe ein vollständiges diatonisches Tetrachord ausgemacht, und zwar ein dorisches, aus einem Halbton am unteren Ende und zwei darauf folgenden Ganztönen bestehend, EF-G-A. Wie diese Skala sich erweitert hat, wissen wir nicht, doch lässt sich kaum annehmen, dass die Oktave nicht von Anfang an bekannt gewesen sein sollte. Wir wissen nur, dass Pythagoras die Skala, nur aus sieben Tönen bestehend, vom Terpander empfing, nachdem dieser ihr erst die siebente Saite hinzugefügt hatte, da sie vor ihm deren nur sechs enthielt. Die Skala des Terpander bestand aus zwei zusammenhängenden Tetrachorden, doch fehlte die Quinte, und ihre Stufen führten folgende Namen:
Pythagoras fügte zwischen Mese und Paramese den Ton Trite, die Quinte H ein, woraus ein aus zwei getrennten dorischen Tetrachorden bestehender Achtsaiter (das Octochordum Pythagorae, siehe dort) sich ergab:
Wie diese Skala nach und nach bis auf 16 Töne, von A bis a', sich verlängert und das aus fünf Tetrachorden zusammengesetzte sogenannte vollkommene und unveränderliche System sich gebildet hat, ist nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Dieses im Artikel Tetrachord und Tonsystem der Griechen ausführlich erklärte System findet sich zuerst bei Euklid, mag daher schon im 3. Jahrhundert v. Chr. bestanden haben.
Aus dem eben erwähnten Artikel wird man auch ersehen, dass den Griechen, ungeachtet das Tetrachord ihrem System zu Grunde lag, die Oktavteilung doch ebenso gut bekannt und geläufig war, und es ihnen nebendem auch an einer Gliederung nach Pentachorden nicht fehlte; und im ferneren, dass sie
- jenen Tonumfang von zwei Oktaven auf alle Halbtöne der Oktave transponierten, woraus die an Intervallenfolge einander gleichen, nur durch ihre höhere oder tiefere Lage im Tonsystem sich unterscheidenden Tonarten entstanden;
- dass sie ihrer diatonischen Oktave durch immer andere Lage des Halbtons verschiedene innere Einrichtung gaben, woraus die Oktavgattungen entsprangen;
- und endlich, dass sie die Intervallenfolge des Tetrachordes auf dreifach verschiedene Arten gestalteten, welche sie als diatonisches, chromatisches und enharmonisches Klanggeschlecht voneinander unterschieden.
Nach und nach sind dann in der Tiefe der Ton G (Gamma graecum) und in der Höhe die Töne b1, h1, c2, d2, e2 hinzugekommen. Im 11. Jahrhundert findet sich das System mit einem Ambitus von 22 Tönen, in sieben Hexachorde geteilt, worüber der Artikel Solmisation nähere Nachricht gibt.
Von dem (angeblich durch Ambrosius) auf den griechischen Oktavgattungen begründeten System der Kirchentöne, der Vervollständigung desselben hinsichtlich der plagalischen Ausübung ihrer Oktaven (wie man sagt durch Gregor den Großen) sowie von der ferneren Erweiterung desselben durch Glarean (welcher die Oktaven C ionisch und A aeolisch in das System mit aufnahm, so dass es 12 Oktavgattungen enthielt) und der Einrichtung des natürlichen (Dur-) und transponierten (Moll-)Systems handelt der Artikel Tonart. Dort findet man auch unser modernes Dur- und Mollgeschlecht mit seinen 12 Transpositionen auf die Halbtöne der Oktave (die 24 Tonarten, Quintenzirkel) ausführlich erklärt. Und über unsere modernen Begriffe der Diatonik, Chromatik und Enharmonik geben die gleichnamigen Artikel und der Artikel Klanggeschlecht nähere Auskunft.
Hinsichtlich der Intervallbestimmung der Töne für den musikalischen Gebrauch unterscheiden wir folgende Systeme:
- das reine Quintensystem;
- das sogenannte reine diatonische System des Zarlino;
- die ungleichschwebenden und
- gleichschwebenden Temperaturen – siehe den Artikel Temperatur.
Alles in die Kanonik gehörende ist im gleichnamigen Artikel bezeichnet und in den einzelnen Aufsätzen (Verhältnis, Addition, Subtraktion, Comma, Dieses etc.) erklärt. Den Gesamtumfang unseres heutigen, nach Oktaven eingerichteten Tonsystems mit seiner Bezeichnung und Benennung in der Notation findet man unter Notenschrift aufgeführt. Von den Intervallen, der Konsonanz und Dissonanz etc. handeln die gleichnamigen Artikel. [Dommer Musikalisches Lexicon 1865, 877f]