Strophe (1882)
Strophe (Griech., von στρέφειν, wenden), dem Wortsinn nach identisch mit dem lateinischen versus (von vertere, wenden), wird jedoch in der Poetik scharf von Vers unterschieden; unter Vers versteht man eine Zeile eines Gedichts, unter Strophe dagegen mehrere Zeilen eines lyrischen Gedichts, die durch das Metrum und durch den Inhalt (in der neueren Poesie auch durch den Reim) zur höheren Einheit der Strophe zusammengeschlossen sind. So ist z. B. jeder sogenannte "Vers" eines protestantischen Kirchenlieds (Chorals) nicht ein Vers, sondern eine Strophe, ebenso sind die einzelnen Stanzen (Ottave Rime) von Tassos "Befreitem Jerusalem" oder Schulzes "Bezauberter Rose" Strophen. Strophe ist also das, was jetzt im Volksmund Vers heißt.
Bei den Griechen, die bekanntlich eine sehr hoch entwickelte Metrik hatten, gliederte sich die Strophe weiter in Kola (Glieder) und Metra (Verse). Umgekehrt schlossen sich in den Chorgesängen der griechischen Tragödie und in den Oden Pindars mehrere Strophen wieder zu einer höheren Einheit zusammen (Strophe, Antistrophe und Epode), genau entsprechend den beiden Stollen und dem Abgesang der spätmittelalterlichen deutschen Poesie, besonders der Meistersänger, welche zusammen einen sogenannten Bar repräsentierten.
Die Strophenbildung ist von typischer Bedeutung auch für die musikalische Formbildung. Eine ausgezeichnete Darstellung der griechischen Metrik hat R. Westphal in seiner "Theorie der musikalischen Rhythmik" (1881) gegeben. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 890]