Orgelpunkt (1882)
Orgelpunkt nennt man einen lang ausgehaltenen Basston, über welchem die Harmonien bunt wechseln, besonders kurz vor dem Schluss einer Komposition, wo der Orgelpunkt in der Regel über der Quinte der Tonart auftritt, gewöhnlich mit dem Quartsextakkord beginnend.
Der Orgelpunkt dieser Art ist schon alt. Franko von Köln (12. bis 13. Jahrhundert) erwähnt ihn in der "Ars cantus mensurabilis" (Gerbert, "Script.", III; Coussemaker, "Script.", I): "usque ad notam penultimam" (die vorletzte, nicht die letzte, wie zum Beispiel im Mendelschen Lexikon [Musikalisches Conversations-Lexikon] zu lesen), "ubi non attenditur talis mensura, sed magis est ibi organicus punctus" (Kap. 11). Organicus punctus heißt nämlich eine Note von unbestimmt langer Geltung, wie beim Organum (siehe dort) des 12. Jahrhunderts, wo über einem Tenor aus dem Antiphonar floriert kontrapunktiert wurde und die Noten des Tenors als Longae notiert wurden, aber eine ganz verschieden lange, meist viel längere Geltung hatten, die nicht geregelt war, sondern sich ganz nach dem Kontrapunkt richtete, den der Sänger des Tenors natürlich auch vor Augen haben musste.
Bedingung der guten Wirkung eines Orgelpunkts ist, dass er zu Anfang und zu Ende gut tonal ist, während er in der Mitte sich ganz frei durch fremde Harmonien bewegen kann. Seine ästhetische Bedeutung ist die einer Verzögerung der Konsonanz vom Durakkord des Basstons, d. h. im Grunde dieselbe wie die des Quartsextakkords, welcher als der eigentliche Keim des Orgelpunkts anzusehen ist. [Riemann Musik-Lexikon 1882, 654f]