Adagio (1870)
Adagio (ital.), bedeutet als Tempobezeichnung langsam - und zwar weniger langsam als Largo, mehr langsam als Andante. Als Substantivum gebraucht, bezeichnet Adagio ein langsames, zumeist zartgehaltenes Tonstück, welches in der Regel als zweiter oder dritter Satz der Sinfonie oder Sonate, sonst aber auch abgeschlossen und selbstständig auftritt. Demgemäß ist es auch zunächst von Komponisten als Ausdruck trauriger, milder, elegischer Stimmungen in Erfindung und Bearbeitung der Themen zu behandeln. Als Kontrast der feurigeren, schnelleren Sätze, zwischen denen es seine Stelle einnimmt, ist es am zweckmäßigsten in einer breiten Taktart zu halten, welche Gelegenheit zu empfundener schöner Cantilene [sic] gibt und zugleich Raum für eine lebhaftere Figuration schafft, deren das Adagio zur Vermeidung der Einförmigkeit nicht ganz entbehren kann. Alle diese Erfordernisse aber legen dem Tonsetzer Schwierigkeiten auf, deren Überwindung nur der technischen Gewandheit, gepaart mit durchdrungener Wahrheit, möglich ist; Kenntnis des Seelenlebens, Herzens- und Lebenserfahrung müssen die komponierende Feder führen. Blässe des Gedankens und Ideenarmut treten in keiner Gattung unverhüllter zu Tage, und darum ist das Adagio der beste Probierstein für den Wert eines Komponisten, nicht minder aber auch für die Ausführenden. Denn die langsame Bewegung, für die zunächst das angemessene Zeitmaß nicht leicht zu finden ist, lässt jeden einzelnen Zug augenfälliger hervortreten, als eine schnelle, in welcher das Unpassende und Unrichtige, kaum gehört, schon verdrängt wird. Der Vortrag erfordert eine ganze Fülle äußerlicher und innerlicher Eigenschaften, wie großen, breiten, dabei aber gleichwohl biegsamen Ton, den Ausdruck tiefer Empfindung, klare Auseinandersetzung der Tongruppen bis in die kleinsten Phrasen und Nuancen hinein, richtige Abwägung der dynamischen Verhältnisse, dabei zugleich innere Wärme, Lebendigkeit der Phantasie und poetische Reproduktionskraft. Alles muss zusammengreifen, um den Hörer an den überall drohenden Klippen der Monotonie sicher und geschickt vorbeizuführen und vor Ermüdung zu bewahren.
Es ist übrigens ein eigentümliches, nicht erfreuliches Zeichen der Zeit [um 1870], welches jedenfalls auf einen tieferen Zusammenhang zurückzuführen ist, dass die Gegenwart sowohl in der Komposition wie in der Wiedergabe des Adagios hinter der vergangenen Zeit entschieden zurücksteht. Einem solchen Verluste gegenüber dürften viele der neuesten Errungenschaften bedeutend an Gewicht und Wert verlieren. [Mendel Musikalisches Lexikon 1870, 31]